Presse (2021)

23. Dezember 2021

Bei den „Intzis“ fanden neun Kinder ein neues Zuhause

Helft uns helfen

Steffi Schulte hat gemeinsam mit den Jugendlichen im Keller einen Traumapädagogik-Raum eingerichtet.

In der Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe leben belastete Jugendliche. Das Team kümmert sich liebevoll und stärkt sie für ihren Lebensweg.

Von Melissa Wienzek

Remscheid. Aus der Küche duftet es verführerisch nach mexikanischem Bratreis – das lockt auch Luisa (16) aus ihrem Zimmer. Sie streckt den Kopf durch die Tür zwischen Küche und Esszimmer. „Wann gibt’s Essen?“, fragt sie. „Um halb, dann kommen die anderen auch“, entgegnet Steffi Schulte, während in der Küche Geschirr klappert und im Hintergrund 1live „Last Christmas“ spielt. Auch Niklas (17) hat schon mächtig Hunger und tigert umher. „Jetzt gleich, noch eine Viertelstunde“, sagt Steffi Schulte, und Niklas zieht sich solange wieder in sein Zimmer zurück. Da klingelt es an der Tür: „Unser Weihnachtsbaum ist da!“, ruft Katrin Walter aus dem Flur, und die Vorfreude ist mit den Händen zu greifen.

Alle unter einem Dach: Arja Mitmasser, Steffi Schulte und Katrin Walter essen gemeinsam mit den Jugendlichen.
© Michael Schütz

In der Wohngruppe Intzestraße der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL) geht es zu wie in jeder anderen Familie auch: Hier wird gelebt, geliebt und sich auch manchmal gezofft. Mit dem Unterschied: Die sieben Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren, die hier leben, haben entweder keine Eltern mehr, Eltern, die suchtkrank oder anderweitig belastet sind. Oder kommen aus Ländern, aus denen sie flüchten mussten. Neun Lebensgeschichten, neun Persönlichkeiten, ganz eigenen Probleme. Die meisten sind psychisch belastet. Einige werden im Sana-Klinikum oder in der Traumaambulanz in Wuppertal behandelt. Bei den „Intzis“, wie sich die Gemeinschaft im Südbezirk liebevoll nennt, haben sie alle ein neues Zuhause gefunden. Hier können sie sich nicht nur frei bewegen, sondern werden vor allem gehört. „Dieses Gefühl haben die meisten nie kennengelernt“, sagt Teamleiterin Steffi Schulte.

Das Team setzt sich aus drei Erzieherinnen und Erziehern, zwei Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern BA, einem Diplom-Sozialpädagogen, einer Hauswirtschaftskraft und einer Dualen Studentin zusammen. Es kümmert sich dort rund um die Uhr um die Jugendlichen, die manchmal ein halbes Jahr und manchmal drei Jahre bleiben. Die meisten kommen aus Remscheid, Wermelskirchen, Burscheid oder Köln. Die Einrichtung hält neun Plätze vor, zwei Zimmer sind derzeit frei. Im Januar bekommen die Intzis aber neue, doppelte Verstärkung. Jeder Jugendliche hat seinen eigenen Haustürschlüssel und sein eigenes Zimmer. Die Räume sind möbliert, die Kids dürfen aber auch ihre eigenen Möbel mitbringen oder Wände neu streichen. An jeder Tür prangt der jeweilige Name. „Der eigene Rückzugsort ist ganz wichtig“, sagt Schulte. Es gibt auch ein Verselbstständigungsappartement mit Küche.

Dennoch muss in dieser großen Familie auch jeder was tun, und es gelten Regeln. Schließlich sollen die Jugendlichen, wenn sie 18 werden, in ein selbstständiges Leben entlassen werden. Und dafür werden sie in der Intzestraße 20 gut vorbereitet. „Ämter“ heißen die Aufgaben, die wochenweise wechseln. In der Küche prangt zum Beispiel der Zettel des „Küchen-Amts“: Spülmaschine ausräumen, fegen, Müll entsorgen. Am Wochenende müssen die Jugendlichen selbst kochen – dafür bekommen sie 15 Euro und müssen sieben Leute verpflegen. Alles wird vorab geplant. Auch Waschlisten gibt es. Sowie Wunschlisten für das Essen.

Hauswirtschafterin Arja Mitmasser kocht viermal die Woche frisch. Sie würde sich von dem Spendengeld der RGA-Leserinnen und -Leser ein Auto wünschen. „So könnte ich mit den Jugendlichen gemeinsam einkaufen fahren. Einige von ihnen kennen zum Beispiel kein Gemüse.“ Derzeit bewerkstelligt das Team alles mit privaten Wagen – wenn überhaupt vorhanden. Auch Ausflüge oder Fahrten zu Therapien wären so deutlich einfacher.

Die „Intzis“ sind eine Familie – gemeinsam wird auch gebastelt.
© Michael Schütz

Gemeinsamkeit wird hier groß geschrieben. „Wir sind eine Familie“, verkündet das Schild im Flur, am „Ankerplatz“ stehen Fotos der aktuellen Bewohnerinnen und Bewohner, im „Intz-Leben“ die der ehemaligen. „Die Intzis sind cool“, sagt Luisa, die seit dem 22. Februar hier lebt. Wegen Corona kann sie sich nicht mit ihren Freunden in der WG treffen. „Ich bin daher viel draußen.“

Alles ist hier hübsch dekoriert und modern eingerichtet. „Manche Menschen haben von einer Wohngruppe leider immer noch die Vorstellung, dass wir hier Gitter vor den Fenstern haben“, sagt Steffi Schulte. Auch manche Eltern hätten Berührungsängste, fühlten sich schuldig. „Das müssen sie nicht, das ist mir ganz wichtig. Alle sind hier willkommen“, sagt die Teamleiterin. Nur wegen Corona seien die Kontakte derzeit eingeschränkt. Elternarbeit sei jedoch ganz wichtig.

Normalerweise gibt es vor Ostern immer ein Elterncafé, wegen Corona nicht mehr. Vieles fällt aus, worauf sich die Jugendlichen stets gefreut haben. Die Pandemie hat bei ihnen Spuren hinterlassen. „Sie haben keine Lust mehr.“ Die Tür zum Büro steht daher immer offen. „Besonders abends herrscht hier Redebedarf“, weiß Steffi Schulte. Die Wermelskirchenerin ist seit 2018 in der Intzestraße dabei, seit 2019 hat sie den Hut auf – und liebt ihre Arbeit. Und das ist hier deutlich zu spüren.

Weil immer mehr Jugendliche psychisch belastet sind, ließ die EJBL einige Erzieher zu Traumapädagogen ausbilden. So auch Steffi Schulte. „Früher war es eher die Gewaltproblematik, heute ist es eher die psychische. Und es wird immer mehr.“ Gemeinsam mit den Jugendlichen hat sie im Keller einen eigenen Raum dafür eingerichtet. Hier gibt einen Boxsack, Sorgenfresser und kleine Tricks, was hilft, wenn die Jugendlichen das Bedürfnis zur Selbstverletzung haben. Zum Beispiel Wärmecreme, Karten mit der Aufschrift „Geh kalt duschen!“ oder saures Kaugummi. Eins möchte die Pädagogin den Jugendlichen mit auf den Weg geben: „Du bist nicht falsch, du bist gut so, wie du bist.“ Denn das, was die Kids machten, seien einfach nur Überlebensstrategien.

Das Fest verbringen die Jugendlichen teils bei ihren Familien, teils bei den „Intzis“. Dann wird lecker gegessen, gespielt, ein Film geschaut. Denn für die Jugendlichen, die hier leben, ist Weihnachten schwierig. „Dann kommen die Emotionen hoch“, sagt Steffi Schulte. Daher versucht das Team, es so heimelig wie möglich zu machen.

rga-online, 23.12.2021: Text von Melissa Wienzek; Bilder von Michael Schütz

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