4. Juni 2024

Raus aus der Gewalt: Hier finden Kinder in Not schnell ein sicheres Zuhause

Die Evangelische Jugendhilfe Bergisch Land hat eine Gruppe für Inobhutnahme eröffnet - und das Jugendamt dankt es ihr. Denn die Fallzahlen steigen. Wie so ein Platz bezahlt wird und wie den Kindern geholfen wird.

RGA-Bericht Inobhutnahme-Gruppe der EJBL 01

Blick in eines der sechs Zimmer: Am 14. Juni ziehen die ersten Kinder und Jugendlichen in der neuen Inobhutnahmegruppe ein. Auf dem Bett gibt es für jeden ein Starterpaket. Die Whiteboards an den Wänden dürfen sie selbst gestalten – egal, wie lange sie bleiben.

Remscheid. Heute schafft sie es. Heute erzählt sie es Herrn Schneider, ihrem Englischlehrer. Der ist sonst auch immer so nett … Also packt Marina (13*) nach der Stunde viel langsamer als sonst ihre Sachen in den Rucksack, die anderen sind schon in die Pause gestürmt. Jetzt ist sie allein mit Herrn Schneider. Ihr Herz rast, dennoch tritt sie ans Pult, streift das Shirt am Arm hoch, zeigt ihre Schürfwunden und sagt: „Ich muss Ihnen was sagen.“

Lehrer wie Herr Schneider, die sich verantwortlich für ihre Schülerinnen und Schüler fühlen, meldeten sich zuletzt häufig beim Jugendamt, um eine Kindeswohlgefährdung anzuzeigen. Auch in Remscheid. Nicht immer, aber immer häufiger, muss das Jugendamt dann tätig werden – und betroffene Kinder aus der Gewalt herausholen. Inobhutnahme nennt sich das. 79 Mal war es das vergangene Jahr der Fall, nach vielen Jahren mit Zahlen um die 19 Fälle pro Jahr nun ein extremer Anstieg. Experten glauben: Es wird weiter steigen.

Es gibt Fälle, in denen Kinder missbraucht oder vernachlässigt werden. Oder Eltern einfach überfordert sind, die Nerven blankliegen. Immer öfter melden sich Kinder sogar selbst beim Amt und sagen: „Ich kann nicht mehr, ich muss hier raus.“ Manchmal lässt sich der Konflikt nicht anders lösen – und Kinder werden vom Jugendamt aus der Familie herausgenommen und an einen sicheren Ort gebracht.

Es gibt sechs Plätze für 13- bis 18-Jährige

Diesen sicheren Ort bietet ab sofort die Evangelische Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL) auf ihrem Waldhof-Gelände. Hier hat die Einrichtung jetzt eine neue Inobhutnahmegruppe mit sechs Plätzen für Kinder und Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren eröffnet. „Ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber immerhin ein Tropfen“, sagt Geschäftsführerin Silke Gaube. Denn täglich erreichen die EJBL Anfragen. Die Not ist um ein Vielfaches größer, als es Plätze gibt – ein deutschlandweites Problem. Zwei Plätze sind für die Jugendämter in Remscheid und Wermelskirchen reserviert. Die finanzieren solch einen Platz zum festen Pauschalpreis.

Am 14. Juni ziehen die ersten jungen Gäste ein. Jeder hat ein eigenes Zimmer. Rund um die Uhr werden die Kinder und Jugendlichen, die hier in einer akuten Notsituation ankommen, aufgenommen und betreut. „Wir wissen, dass so eine Gruppe für Dynamik und Sprengstoff sorgen kann, aber wir stellen uns der Sache – und bieten den Kindern und auch so manchen Eltern einen sicheren Ort auf Zeit“, erklärt Silke Gaube.

Was mit den Kindern nach den sechs Wochen passiert

Denn die 13- bis 18-Jährigen bleiben nur bis zu sechs Wochen, manchmal auch nur eine Nacht. Wie es weitergeht, entscheidet das Jugendamt schließlich gemeinsam mit dem Team, dem Kind und den Eltern. „Manchmal gehen sie zurück in ihre Familien, manchmal aber auch in eine andere Einrichtung“, erklärt Stephanie Barry. Über all das will das Team ganz offen mit den jungen Gästen sprechen.

Für solch eine spezielle Gruppe, in der Kinder mit verschiedenen Belastungen, teils verletzt, teils traumatisiert, ankommen, braucht es Personal, das nicht nur bereit ist, im Schichtdienst zu arbeiten – sondern die Aufgabe als Berufung ansieht und nicht als Beruf. „Auch wenn das bedeutet, dass jemand vielleicht die ganze Nacht mit mir aufbleibt, weil ich nicht herunterkommen kann“, sagt Silke Gaube.

Sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter plus eine Hauswirtschaftskraft kümmern sich um die sechs Kinder und Jugendlichen. Darunter sind pädagogische Fachkräfte, Erzieher, Sozialpädagogen, sogar eine Kollegin, die Rehabilitationswissenschaften studiert hat. „Ein multiprofessionelles Team ist uns wichtig, um auf all die Herausforderungen hier gut reagieren zu können“, sagt Melanie Grobe, die sich mit Stephanie Barry die Fachbereichsleitung teilt. Etwas länger hat es gebraucht, dieses spezielle Team zusammenzustellen.

RGA-Bericht Inobhutnahme-Gruppe der EJBL 02

Sie testen den neuen Kicker der Gruppe, gesponsert vom Rotary Club Remscheid-Lennep: (v. l.) Clubpräsident Wolfram von Borzeszkowski und das Team der EJBL Tabea Lina Zimmermann, Ronja Löhr, Stephanie Barry, Melanie Grobe, Sabrina Genzke, Nicole Thomas, Oliver Fix und Martin Mersmann.

Denn einfach wird es nicht. Das wissen alle. Dennoch wollen sie den belasteten Kindern und Jugendlichen ein sicheres Zuhause auf Zeit bieten. Ihnen ein gutes Gefühl geben. Das Gefühl, dass sie hier willkommen sind – und man ein offenes Ohr für sie hat. Denn es ist ganz klar: Wer hier als Kind nur mit den wichtigsten Dingen im Rucksack einzieht, hat erst mal Angst. Und ist oft völlig „out of Order“, wie Melanie Grobe sagt. Wie will das Team den Kids in der Krise helfen? „Mit verlässlichen Strukturen wie einem festen Tagesablauf, Ritualen und schönen Angeboten wie Basteln, Sport, Kochen oder dem Kicker.“

Für letzteres hat der Rotary Club Remscheid-Lennep gesorgt, überbracht von Alexander Holthaus und Wolfram von Borzeszkowski. Der gesponserte Hudora-Kicker steht nun im Herzen des Hauses, im Gemeinschaftsbereich, und lädt zu einer Runde Tisch-Ballsport ein. Damit kann man die Welt um einen herum auch einfach mal vergessen.

Denn eines hat Clubpräsident Wolfram von Borzeszkowski festgestellt: „Andere Einrichtungen sind eher Verwahrstationen – nicht so die EJBL.“ Hier werde eine gute sozialpädagogische Arbeit geleistet, sagt er.

Für ein gutes erstes Gefühl sorgt auch die Einrichtung: Alles ist hell, freundlich, hübsch dekoriert. Die Whiteboards an den Wänden in den Zimmern dürfen die jungen Gäste mit ihren eigenen Postern, Fotos oder Co. verschönern. Hier wartet neben einem Starterpaket samt Handtuch und Zahnbürste auf dem frisch bezogenen Bett auch ein Willkommensgruß aus Schokolade – und eine Karte, die bereits alles sagt: „Schön, dass du da bist“.

*Name zum Schutz geändert

RGA Online 04.06.2023, Text und Fotos: Melissa Wienzek


Die WDR Lokalzeit Bergisches Land berichtete am 04.07.2024 über die neue Inobhutnahme-Gruppe der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land.