Frau Gaube, die Pandemie hat uns allen viel abverlangt. In den Einrichtungen der Jugendhilfe gab es sicher noch einmal ganz besondere Herausforderungen . . .
Silke Gaube: Absolut. Ganz eklatant ist die Mehrarbeit für unser Team. Denn durch den Schulausfall über lange Strecken mussten wir ja unsere Betreuungszeiten auf die Vormittage ausweiten. Das ist zum Teil heute noch so. Das können wir nur über Überstunden abdecken.
Immer wieder mahnen derzeit Experten, dass durch die Krise Gewalt und Missbrauch in Familien über längere Zeit häufig unerkannt blieben und Kinder und Jugendliche dadurch Schaden nehmen. Teilen Sie diese Sorge?
Gaube: Auf jeden Fall. Wir hatten gerade im Februar 2020, also vor der Pandemie, noch eine leichte Unterbelegung. Das kommt schon mal vor. Aber dann, ab März, haben wir einen starken Rückgang der Zahlen gesehen. Das bestätigt die Sorge: Eklatante Probleme in Familien blieben unerkannt. Zum Beispiel, weil Hausarztbesuche entfielen, bei denen schon mal körperliche Folgen von Misshandlungen auffallen. Aber auch, weil die Kinder eben nicht in die Schulen oder die Kitas gegangen sind. Einige schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche haben wir später leider bei uns aufnehmen müssen. Zum Teil haben wir sogar Ausnahmen gemacht. Während wir ansonsten nur Kinder ab 6 Jahren in unseren Wohngruppen in Remscheid und Wermelskirchen aufnehmen, waren dann auch mal jüngere Geschwisterkinder bei uns. Es waren einfach Notfälle.
Sicher gab es doch auch bei Ihnen Quarantänefälle während der Monate der Pandemie?
Gaube: Ja, das hatten wir zum Teil. Wir hatten einige Infizierte und auch mal die Situation, dass Quarantänepflicht bestand. Da muss ich sagen, dass das die Kinder und Jugendlichen toll hinbekommen haben. Auch die Kleinsten. Die sind ganz freiwillig in ihren Zimmern geblieben und haben sich separiert. Belohnt wurden sie dafür mit ganz viel Zuwendung sowohl von uns als auch von ihren Mitbewohnern. Da wurden dann schon mal Augen zugedrückt bei den Playstation-Zeiten. Und es gab auch oft das Lieblingsessen.
Und wie funktionierte das mit dem Abstandhalten bei so vielen Jugendlichen?
Gaube: Wir haben das ganz gut gemeistert. Aber es war natürlich nicht immer einfach. Eigentlich herrscht bei uns gerade die Regel, sich untereinander, also zwischen den Wohngruppen, nicht zu mischen. Aber natürlich gibt es auch Freundschaften, die man nicht einfach entzweien kann. Und auch bei den Besuchen bei den Familien musste man immer wieder nachhaken, ob sich denn da auch nicht zu viele Menschen getroffen haben.
Insgesamt haben Sie Ihren Optimismus aber nie verloren, sagen Sie?
Gaube: Auf keinen Fall. Uns war auch von Anfang an bewusst, dass wir das ganz gut schaffen würden gemeinsam. Denn wir können ja schon immer Krise. Das ist unser Metier. Ich bin begeistert von dem großen Zusammenhalt bei uns und der Solidarität, auch bei den Jugendlichen. Es ist wirklich unglaublich beeindruckend, wie gut sich die jungen Menschen mit der sehr schwierigen Situation arrangieren und auch viel Solidarität erleben und selbst zeigen. Zum Beispiel wartete ein Jugendlicher in einer Wohngruppe auf sein Testergebnis. Daraufhin beschloss die gesamte Gruppe, so lange in einer freiwilligen Quarantäne zu bleiben und ihn damit nicht allein zu lassen. Und wir hatten sogar Schüler, die so gut mit dem Lernen zuhause klargekommen sind, dass sie sich in einigen Fächern sogar verbessern konnten. Sowas freut natürlich.
Trotzdem gab es ja für die Jugendlichen, die sich eigentlich mit ihren Freunden treffen möchten, extreme Einschränkungen.
Gaube: Ja. In diesem Alter ist die Peergroup ein wichtiger Anker und Entwicklungsraum für die Heranwachsenden. Darüber hinaus sind auch die Besuchskontakte zu den Eltern und Verwandten immer wieder genau zu besprechen und zu planen. Für die kleinsten Alltagssituationen muss also vorher fast eine Zeichnung angefertigt werden.
Worauf freuen Sie und die Jugendlichen sich besonders nach der Zeit des strengen Lockdowns, der jetzt ja hoffentlich bald anbricht?
Gaube: Am meisten natürlich auf die gemeinsame Zeit, das Zeugnisgrillen, die Aktivitäten mit allen gemeinsam. Das hat uns die ganze Zeit über extrem gefehlt. Viele Jugendliche fragen uns jetzt schon, ob sie denn auch bald geimpft werden dürfen. Einfach, weil sie sich wieder treffen möchten. Und ich wünsche mir auch ganz besonders für sie wieder mehr Freiheiten und Möglichkeiten.
Jugendhilfe
Die Evangelische Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL) mit Sitz in Remscheid und Wermelskirchen ist eine moderne Jugendhilfeeinrichtung. In zentralen und dezentralen Wohngruppen wird mit unterschiedlichen Zielgruppen und Konzepten gearbeitet.
rga-online, 28.05.2021: Text Anja Carolina Siebel, Bild von Roland Keusch