20. Dezember 2021

„Kinder sind die feinsten Erdenbürger dieser Welt.“

Helft uns helfen

Interview mit Silke Gaube, Geschäftsführerin der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land, über die Herausforderung in der Pandemie und wie die RGA-Leser helfen können.

Das Gespräch führte Melissa Wienzek

Frau Gaube, was unterscheidet die Kinder und Jugendlichen, die bei der Evangelischen Jugendhilfe (EJBL) leben, von anderen Kindern und Jugendlichen?

Silke Gaube: Spontan würde ich sagen: nichts. Sie sind Kinder und Jugendliche wie andere auch. Aber wenn man näher hinsieht, erkennt man, dass unsere Kinder und Jugendlichen unter erschwerten Bedingungen groß geworden sind, dass sie belastende Krisen erlebt haben, dass sie aus Familien kommen, in denen es Probleme gibt.

Können die Eltern weiter Kontakt halten zu ihren Kindern, die bei der EJBL leben?

Gaube: Ja. Die Eltern spielen für die Kinder und für uns eine sehr wichtige Rolle. Nicht alle Eltern haben das komplette Sorgerecht noch, aber alle sind interessiert daran, dass es ihren Kindern gut geht. Nur können sie nicht ausreichend für sie sorgen. Wir versuchen, die Eltern überall einzubinden, wo es geht: mal ein Mittagessen hier, mal ein Elternsprechtag. Manche Kinder fahren auch zu Besuchswochenenden zu ihren Eltern. Es ist ein einschneidendes Erlebnis, wenn Kinder nicht mehr zu Hause leben können – für die Kinder, aber auch für die Eltern. Wenn es uns gelingt, gemeinsam mit ihnen und dem Jugendamt eine Verantwortungsgemeinschaft zu bilden, dann können die jungen Menschen das sein, was sie sind: Kinder. Wenn die Kinder wissen, dass wir gut mit ihren Eltern zusammenarbeiten, sind sie glücklich. Sie machen sich Sorgen um ihre Eltern. Wir versuchen, für beide alles zu geben.

Welche Kinder ziehen bei Ihnen ein?

Gaube: Manche Kinder kommen mit 6 Jahren, manche mit 16 – aus allen Gesellschaftsschichten. Es gab vielleicht eine Lebenskrise, eine Scheidung, einen Autounfall, womit die restliche Familie überfordert war. Manche Kinder melden sich auch selbst. Manchmal gibt es zudem einen richterlichen Beschluss.

Haben die Kinder und Jugendlichen, die bei Ihnen leben, mit Vorurteilen zu kämpfen?

Gaube: Ich habe den Eindruck, dass es besser geworden ist. Aber es gibt sie noch, die Vorurteile. Aktuelles Beispiel: Ein Lehrer hat jüngst der Klasse mitgeteilt, dass das Mädchen xy in einer Einrichtung lebt. Oder wenn es um eine Ausbildung geht, kommt oft die Frage: ,Wo sind denn deine Eltern?‘ Es gibt auch Vorurteile unter den Jugendlichen selbst. Aber auch den Fall, dass Jugendliche sagen: ,Toll, du lebst nicht mehr zu Hause‘. Manchmal, wenn wir ein neues Haus mieten, sind die Nachbarn skeptisch. Das muss man verzeihen. Daher machen wir gern Nachbarschaftsfeste.

Wie stark belastet Corona Ihre tägliche Arbeit?

Gaube: Sehr. Die Kinder und Jugendlichen sind bei allem zuletzt dran in dieser Pandemie. Wenn sechs bis neun Kinder in einem Haus leben plus Personal, müssen Kontakte eingeschränkt werden. Das heißt, zum Teil draußen treffen, zum Teil gar nicht, je nach Vorerkrankung oder Situation. Am Anfang der Pandemie war es extrem. Das Homeschooling im ersten Lockdown war eine Herausforderung. Wir sind vom Personalschlüssel her außerhalb der Ferien nicht breit aufgestellt. Pädagogen sind zudem keine Lehrer. Im Moment wollen sich viele Kinder und Jugendliche impfen lassen, manche dürfen es aber nicht und müssen warten. Wir hatten leider auch einige Fälle. Zimmerquarantänen waren angesagt. Drei Jugendliche sind auch schon mal mit einem Ordnungsgeld belegt worden. Die Einschränkungen gehen uns allen auf die Nerven. Wir merken: Die Kinder möchten raus. Für sie ist es gefühlte Käfighaltung. Angebote wie Verstecken im Wald spielen, mit dem Förster auf Nachtwanderung gehen werden dankend angenommen.

Hat Corona auch für finanzielle Einbußen gesorgt?

Gaube: Ja. Wir haben im letzten Jahr Ausgaben ohne Ende gehabt, allein durch die Quarantänen, Tests, Masken. Im ersten Lockdown wurden zudem keine Kinder mehr aufgenommen. Trotzdem hatten wir Mehrarbeitsstunden in den 16 Gruppen, allein durch das Homeschooling. Wir sind aber sehr von der Stadt unterstützt worden: Sie hat uns mit Tests ausgestattet und dafür gesorgt, dass unser Personal geimpft wurde. In Wermelskirchen hat ein Arzt bei uns nach der Arbeitszeit Tests durchgeführt.

Warum sollten unsere Leserinnen und Leser spenden?

Gaube: Ich denke, es wäre schön, wenn sie in Kinder und Jugendliche investieren. Es zahlt sich aus. Denn Kinder sind die feinsten Erdenbürger dieser Welt. Sie haben sich ihre Schicksalsschläge nicht ausgesucht. Wir bekommen von den Kommunen, aus denen die Kinder zu uns kommen, für jeden Platz, der belegt wird, einen festgelegten Tagessatz. Wir kommen damit so aus, dass das Kind versorgt ist. Ähnlich wie bei Sozialhilfeempfängern muss man kleinere Dinge ansparen. Zu Weihnachten gibt es einen Zuschuss – 35 Euro pro Kind–, Geburtstagsgeschenke hingegen müssen aus dem knapp bemessenen Betreuungsgeld finanziert werden. Und wir haben 132 Kinder und Jugendliche.

Diese Leserinnen und Leser haben bereits gespendet, wofür wir herzlich danken:
Hans-Joachim Jung, Antje Steiner, Wolfgang Rudolf Grosser, Ellen Pauel, Bernd und Gisela Wüstemann, Annemarie Quante, Hans Helmut Rocholl, Gudrun Wirtz, Gordon und Maria Frommenkord, Christel Lenhard, Wolfgang und Gisela Schuld, Inge Brenning, Rainer und Brigitte Leischner, Rainer und Ute Quanz, Ulrike Rudoba, Heidemarie Dusi, Ulrike Ohler, Monika Mühlbauer, Gertrud Girbig, Hans Unkelbach, Harald Beeck, Konrad und Gisela Erndt, Erika Hasenclever, Albrecht und Renate Drees, Christel Moller, Siegfried und Lydia Pahl, Gerhard und Silke Lohmann, Marion Klein, Edmund Vahrenholt, Lilly Kruek, Hans Werner und Helga Rehborn, Margarete Werner, Gerhard Bross, Herbert und Heidemarie Schmidt, Michael und Iris Wurm, Brigitte Kiel, Helmar Kuerten, Marliese Nussbaum, Rolf und Marga Schmeißer, Renate Wuebbeling, Tamara Markwardt, Annemarie Bickenbach, Karl Willi Steinheuser, Christina Grosse-Hering, Ruth Weller, Norbert und Annchen Schmied, Irmgard Kruger, Hildegard Johanna Langescheid, Marion Maxeiner, Brigitte Lesenich, Hans Jürgen Ginsberg,Gerhard Franz und Hannelore Jörgens.

Zur Person

Silke Gaube (58) stammt aus Düsseldorf. Nach einer Erzieherausbildung arbeitete sie in einer Kita. 1987 kam sie zum damaligen Kreiskinderheim Wermelskirchen, zunächst in eine Wohngruppe, später als Teamleitung. Eine Ausbildung zur Heilpädagogin folgte, ein Studium Sozialmanagement, danach ein Studium Heilpädagogik. Nach der Fusion 2005 war Gaube zunächst Prokuristin der EJBL, seit 2012 ist sie Geschäftsführerin. Sie lebt in Düsseldorf. In ihrer Freizeit wandert und reist sie gern.

rga-online, 14.12.2021: Text von Melissa Wienzek; Bild von Roland Keusch