11. Januar 2022

Helft uns helfen: Die erste Anlaufstelle im Notfall hat immer geöffnet

RGA-Hilfsaktion

Heiner van Mil zeigt ein Wende-Kuscheltier, den Wolf im Schafspelz, das in der Diagnostik eingesetzt wird. Darüber können Kinder ihre Gefühlswelt ausdrücken und ihre eigene Situation verstehen.

Im Walter-Frey-Zentrum der Evangelischen Jugendhilfe gibt es 14 Plätze für Kinder und Jugendliche. Nach dem Einleben geht es um die Klärung der Situation.

Manchmal bimmelt nachts um 3 Uhr das Notfalltelefon der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL). Am anderen Ende der Leitung: das Jugendamt. „Es kommt gleich ein Kind, das wir wegen Problemen in der Familie in Obhut nehmen mussten. Ist bei euch ein Platz frei?“ Dann bereitet das Team alles vor, um das Kind schnell und unkompliziert auf dem Waldhof-Gelände aufzunehmen. Dafür gibt es spezielle Gruppen im sogenannten Walter-Frey-Zentrum. Rund um die Uhr ist jemand da – denn Kinderschutz kennt keinen Dienstschluss. Gerade in den letzten Wochen und Monaten wird die EJBL ständig angefragt, nicht nur von Jugendämtern aus Remscheid oder Solingen, sondern auch von weiter weg – doch alle Plätze im Zentrum sind belegt.

Heiner van Mil, Fachbereichsleiter für besondere Wohn- und Hilfeformen, weiß: „Alles, was Familien Stress macht, hat zugenommen. Damit steigt auch die potenzielle Gefahr für eine Gefährdung der Kinder.“ Gerade Corona habe die Lage verschärft. Doch was ist das Walter-Frey-Zentrum genau? Wir klären auf.

Wie viele Plätze bietet das Walter-Frey-Zentrum?

Das Walter-Frey-Zentrum für Aufnahme und Clearing bietet insgesamt 14 Plätze an. Für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren gibt es eine Gruppe mit 7 Plätzen, für Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren ebenfalls eine mit 7 Plätzen. Alles Einzelzimmer, die die Kinder aber auch abschließen können. Dazu gibt es Gruppenräume. Unterstützt werden die Gruppen von einem Fachdienst, bestehend aus einer Psychologin, einem Familienberater und und einer systemischen Therapeutin. In den Gruppen gibt es jeweils sechs Planstellen. „Da wir eine hohe Fluktuation der Kinder haben, gibt es in den Gruppen öfter Trouble. Die Gruppe muss sich immer wieder neu finden“, erklärt van Mil. Daher sei die Arbeit sehr intensiv.

Wie lange bleiben die Kinder und Jugendlichen?

Die Verweildauer liegt ganz unterschiedlich zwischen einer Nacht und mehreren Monaten, je nach individueller Bedarfslage. Im Durchschnitt sind es 60 bis 80 junge Menschen, also jeweils 30 bis 40 Kinder pro Gruppe, im Jahr. „Der Durchschnitt blieb in den letzten Jahren trotz der Schwankungen in den Corona-Jahren konstant“, sagt van Mil.

Welche Kinder und Jugendlichen nimmt das Zentrum auf?

Oft handelt es sich um Kinder und die Jugendliche, die in einer akuten Notlage sind. Sie kommen aus allen sozialen Milieus, vor allem aber sind diejenigen betroffen, die in schlechten Wohnbedingungen leben, die Gewalt erfahren haben, die vom Jugendamt in Obhut genommen wurden, die geflüchtet sind und die manchmal auch ihre Eltern verloren haben. Oder die sich sogar selbst manchmal melden und sagen: „Bitte helft mir, ich muss hier raus!“. „Jugendhilfe ist ein Abbild gesellschaftlicher Probleme“, fasst Heiner van Mil zusammen. Zwischen 70 und 80 Prozent der Kinder, die hier aufgenommen werden, haben eine Traumafolgebelastung. Selbst ein Corona-Test, bei dem ein Stäbchen eingeführt wird, kann schon ein Trigger sein. Auch Masken sind für belastete Kinder ein Problem. In seltenen Fällen werden Kinder sogar inkognito untergebracht, um sie zu schützen: Niemand kennt ihren genauen Namen. Das ist bereits bei gewalttätigen Eltern vorgekommen oder bei Kindern aus Clanstrukturen.

Wie geht es nach der Aufnahme weiter?

Erst einmal wird den Kindern und Jugendlichen, die alle schon etwas erlebt haben, Zeit gelassen, anzukommen, sich einzuleben, einen geschützten Rahmen. „Vor allem die Kinder brauchen viel Betreuung, viel Pflege“, sagt Heiner van Mil. Zurzeit lebe zum Beispiel ein zwölfjähriges Mädchen in der Gruppe, das nur auf der Straße unterwegs ist. „Wenn sie dann mal hier ist, machen wir die Tür weit auf. So weiß sie: Hier ist sie sicher, hier kümmert man sich um sie.“ Daher würden erste Tests oder Gespräche auch erst viel später begonnen. Denn unter Stress würden bestimmte Hirnareale gar nicht aktiviert. „ Kinder, die traumatisch belastet sind, befinden sich in einem ständigen Übererregungslevel. Daher arbeiten wir auch stark traumapädagogisch.“ Zum Beispiel gibt es kleine Stopp-Schilder, die die Kinder einsetzen können, wenn eine Grenze erreicht ist. Denn dies ist Teil der traumapädagogischen Arbeit.

Was ist das Clearing?

Die Klärung der Situation. Wenn alle Beteiligten einverstanden sind, führt das multiprofessionelle Team eine psychosoziale Diagnostik, das sogenannte Clearing, durch. „Dabei geht es darum, gemeinsam mit den Kindern und ihren Familien die aktuelle Situation zu verstehen“, erklärt van Mil. „Denn wenn die Familie selbst versteht, hat sie auch mehr Akzeptanz für weitere Schritte.“ Auch die Biografiearbeit spielt eine Rolle. Manchmal ist auch ein Intelligenztest vonnöten. Im Alltagsleben können die Experten zudem genau beobachten und ein guter Ansprechpartner sein. Nicht selten fährt ein Pädagoge mit einem Kind ein Eis essen. In den Gruppen gibt es zudem pädagogische Angebote und Methoden. Am Ende des Clearings steht immer eine Empfehlung zu weiterführenden Hilfen. Denn Kinder und ihre Familien sollen eine Perspektive erhalten.

rga-online, 11.01.2022, Text: Melissa Wienzek, Foto: © Roland Keusch