1. April 2022

Rückzug in die Quarantäne-Höhle 

EJBL besorgt, gemeinsam mit anderen Fachkräften, um Auswirkungen von Corona auf Kinder und Jugendliche

Acht von zehn Kindern fühlen sich laut einer Studie durch die Corona-Pandemie belastet. Besonders hart trifft es Kinder und Jugendliche, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können. Ihnen versuchen die Einrichtungen der diakonischen Jugendhilfe auch in dieser schwierigen Zeit ein stabiles Umfeld zu bieten.  Doch die Auswirkungen der Pandemie auf Körper und Seele sind schon jetzt sichtbar.

Der Besuch im Fitness-Studio war für den 17jährigen Amir (Name geändert) seine liebste Freizeit-Beschäftigung. Hier traf er regelmäßig auf Bekannte. Doch mit Beginn der Pandemie brach dieser Kontakt zur Außenwelt ab. Nicht nur, weil das Fitness-Studio über Monate geschlossen war. Amir, der aus Afghanistan stammt, entwickelte außerdem immer stärkere Ängste.

Je länger die Pandemie dauerte, desto weniger traute er sich rauszugehen, bis er sein Zimmer schließlich kaum noch verließ.

Nach zwei Jahren Pandemie sei bei vielen Kindern in den Einrichtungen der Jugendhilfe das sogenannte “Cave-Syndrom”, also der Rückzug in die “Höhle” der eigenen vier Wände zu beobachten, sagt Heiner van Mil, Fachbereichsleiter der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land. “Man merkt, dass es ihnen deutlich schlechter geht.” Dabei hätten es gerade diese Kinder ohnehin oft schwer, soziale Kontakte außerhalb der Einrichtung zu pflegen. In den vergangenen zwei Jahren seien die Hürden noch höher geworden. Viele zögen sich aus Angst zurück.

Auch wenn die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Bestes geben, um für Bewegung und Spaziergänge zu sorgen, hat das viele Sitzen und Grübeln mittlerweile Folgen. “Adipositas ist vermehrt zum Thema geworden”, sorgt sich Jörg Marquardt, Geschäftsführer Kinder- und Jugendhilfen der Diakonie Michaelshoven.

Außerdem hätten Essstörungen zugenommen. Und die Frustrationstoleranz bei den Kindern sei deutlich gesunken.

Das Dilemma der Quarantäne

Den Kindern in den Einrichtungen fehle vor allem auch die Verlässlichkeit des Schulalltags, der stark durch die Pandemie geprägt sei, sagt Heiner van Mil. Die Pool-Testungen in den Schulen verursachten eine große Anspannung. Denn bei positiven Ergebnissen müsse unter Umständen die gesamte Wohngruppe in Quarantäne. “Das hängt immer wie ein Damoklesschwert über ihnen.”

Ein großes Problem sei es, wenn Kinder in Einzelquarantäne müssten, vor allem wenn es sich um Kinder mit Traumata oder mit selbstgefährdendem Verhalten handele, ergänzt Kerstin Schwabl, Referentin für Erzieherische Hilfen bei der Diakonie RWL. Studien zeigten, dass bei 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen traumatische Belastungen vorlägen. Für die Erzieherinnen und Erzieher sei die Quarantäne einzelner Kinder deshalb oft ein Dilemma. Denn gerade diese Kinder brauchten stabile Verhältnisse und Zuwendung.

Distanz durch Maskenpflicht

Auch die Maskenpflicht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erschwert die pädagogische Arbeit enorm. Gerade Kinder mit Gewalterfahrungen verunsichert es, nur die Hälfte eines Gesichtes zu sehen. “Sie müssen an den Gesichtern von Erwachsenen Stimmungen ablesen können”, erklärt Carsten Schüler, Bereichsleiter des Kinder- und Jugendhilfeverbund Bergische Diakonie.

“Zentrale beziehungsstiftende Situationen konnten nicht mehr stattfinden”, bedauert auch Heiner van Mil. “Ein Super-Gau für die Pädagogik in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.” Wegen der Abstandsregeln für Erzieherinnen und Erzieher sei es zum Beispiel auch nicht mehr möglich gewesen, auf der Couch zu kuscheln und zusammen ein Buch zu lesen oder einen Film zu gucken. “Gerade für kleinere Kinder ist die fehlende körperliche Nähe schlimm”, beobachtet der Pädagoge.

Ein weiteres Problem ist das Homeschooling. Während des Lockdowns und in Zeiten der Quarantäne mussten die Einrichtungen Kinder, die normalerweise in die Kita oder Schule gehen, auch vormittags betreuen. Acht oder neun Kindern mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen und Lernschwierigkeiten gleichzeitig gerecht zu werden, sei eine Riesen-Herausforderung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewesen. “Das System Jugendhilfe ist nicht dazu gemacht, über einen langen Zeitraum kollektiv Schule zu ersetzen.”

“Mitarbeitenden geht die Luft aus”

Nach zwei Jahren habe die Pandemie auch bei den Mitarbeitenden der Einrichtungen Spuren hinterlassen, sagt Kerstin Schwabl. Langsam gehe ihnen die Luft aus. “Ich habe Sorge, dass sie ausgebrannt sind, wenn die Infektionszahlen demnächst runtergehen und die Anspannung etwas nachlässt.” Angesichts des ohnehin bestehenden Fachkräftemangels werde es dann brenzlig für viele Einrichtungen.

Zugleich geht die Diakonie RWL-Expertin davon aus, dass der Bedarf an Hilfen zur Erziehung weiter zunehmen wird. “Wenn die Pandemie endet und andere wieder in den Normalrhythmus kommen, werden unsere Arbeitsbereiche erst einmal mit der Aufarbeitung der Folgen zu tun haben.” Kerstin Schwabl ärgert, dass die Jugendhilfe neben den Kitas und Schulen in den öffentlichen Debatten oft vergessen wird. “Wir gehören zur kritischen Infrastruktur, aber wir müssen immer wieder um diesen Status kämpfen.”

Text: Claudia Rometsch, Redaktion: Sabine Damaschke, Fotos: pixabay, privat