Burscheid. Letzter Halt vor der Sackgasse? Endstation für schwierige Kinder? Im Gegenteil. Man könnte die Heilpädagogische Tagesgruppe der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land in Burscheid viel eher als Tankstelle bezeichnen. Als einen Ort, an dem Batterien neu oder wieder aufgeladen werden. Als einen Ort, der Schutz gewährt und damit neu definierte Stärke verleiht: den Kindern, aber auch ihren Eltern. Die schöne alte Villa an der Bismarckstraße und das Domizil der Tagesgruppe im Erdgeschoss unter hohen Decken und mit bunten Bildern sind ein Ort zum Atemholen. Dafür sorgen Leiterin Anna Fels, ihre Stellvertreterin Nina Braun, Kunsttherapeutin Joana Dörenbach, Küchenchefin Ayse Gürsu (die zum Zeitpunkt des Gesprächs Urlaub hat, aber kurz mit strahlendem Lächeln in ihrer Arbeitsstelle vorbeischaut) und Mike Bröhl, der den Fahrdienst macht. Ein Quintett, das gerade erst in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feierte: Die goldene „10“ hängt noch immer an der Wand.
Später Vormittag, noch ist es ruhig in den Räumen. Die Kinder sind in der Schule. Für Anna Fels und Nina Braun ist es normalerweise die einzige Gelegenheit, am Schreibtisch zu sitzen und Administratives zu erledigen. Denn wenn die Kinder eintrudeln, gilt ein eisernes Prinzip: Ganz für sie da zu sein und sich ganz auf sie einzulassen.
Sechs Plätze gibt es in der Bismarckstraße, gedacht sind sie für Kinder im Grundschulalter. Sie sind zwar jung. Aber sie haben alle ihre Geschichte. Und bisher wenig Möglichkeiten gehabt, im besten Sinne des Wortes „klein“ zu sein, und unbeschwert.
In der Tagesgruppe können die Kinder Kinder sein
„Viele werden von den Eltern schon wie Erwachsene behandelt“, sagt Anna Fels. „Das ist dann wie eine Grenze, hinter welche die Kinder nicht zurückwollen.“ Kekse backen? Uncool. Eier färben? Blöde. Oder sogar: angsteinflößend. „Ich hatte hier einen Jungen, der lief beim Eierfärben weg. Er kannte das nicht“, erzählt die Leiterin. Genau diese Dinge holt die Tagesgruppe nach. Langsam und behutsam. „Es erfordert Mut, sich einzulassen“, sagen Anna Fels und Nina Braun, meinen damit die Kinder in erster Linie, aber auch die Eltern.
„Die Kinder kehren nach außen ihre harte Seite raus. Sie wehren sich, sie kämpfen.“
Anna Fels, Leitung
„Die Kinder kehren nach außen ihre harte Seite raus. Sie wehren sich, sie kämpfen. Viele hier sind aggressiv.“ Das stößt „draußen“ auf Ablehnung. Ruft Schwierigkeiten hervor. „Wir machen den Kindern bewusst, wie ihr Verhalten wirkt. Übersetzen, wie es ankommt“, sagt Anna Fels. Erklären, warum der Lehrer mindestens irritiert ist, wenn der Schüler in Badeschlappen und Jogginghose kommt. „Wir geben Struktur, vermitteln Rituale“, sagt Anna Fels. Das gemeinsame Am-Tisch-Sitzen und essen beispielsweise. Für viele Kinder ist das völlig neu. „Wir bauen am Fundament, mörteln nach, füllen Lücken auf“, beschreibt Nina Braun. In der Bismarckstraße müssen die Kinder nicht (mehr) kämpfen: „Das Weiche, das Zarte kann hier seinen Platz haben.“ Das bezieht die Eltern mit ein. An Schuldzuweisungen hat niemand Interesse. An einem ehrlichen Wort dafür umso mehr. Denn Fels und Braun verschweigen nicht, wenn sie glauben, nicht die richtige Anlaufstelle zu sein: „Dann raten wir zu einer höherwertigen Begleitform.“ Die befindet sich gleich ums Eck im selben Haus: die Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe. Die Kinder kennen sich ohnehin schon: Manchmal sind sie einander Sparringspartner im gesellschaftskonformen Kennenlernen (man klingelt nebenan und stellt sich vor, sagt, was man will…)
Deshalb ist es sinnvoll, wenn die Kinder für mindestens ein Jahr in der Tagesgruppe bleiben
Manche Kinder bleiben in der Tagesgruppe nur wenige Tage, andere Jahre. Sie kommen aus Leverkusen, Remscheid, Leichlingen, Lindlar – das Einzugsgebiet ist groß. Immer ist das Jugendamt mit im Spiel, das den Weg in die Tagesgruppe ebnet und die Finanzierung sicherstellt. „Mindestens ein Jahr bei uns zu sein, ist sinnvoll“, sagt Anna Fels. „Wir sind keine Autowerkstatt.“
Gerade haben Nina Braun und sie einen Jungen verabschiedet, der drei Jahre lang die Tagesgruppe besucht hat. „Im ersten Jahr lernen die Kinder alles kennen. Im zweiten Jahr wiederholt sich vieles; das Gelernte wird stabilisiert“, sagt Nina Braun. Ein „Werkzeugkoffer“ werde gepackt, den die Kinder mit hinaus ins Leben und nutzen können.
Warum die Tagesgruppe „kein Ponyhof“ ist
Klar ist aber auch: Es gibt Regeln und Grenzen. Die Tagesgruppe ist kein Ponyhof. „Ich arbeite viel mit meiner Stimme“, sagt Anna Fels. Entschlossen kann sie klingen, begütigend, klar, leise: Ein entscheidendes Instrument. Schließlich nennen Fels und Braun ihr Tun vor allem „Beziehungsarbeit“, bei der Respekt wichtige Richtschnur sei – für beide Seiten. „Die Kinder haben guten Grund gehabt, so zu werden, wie sie sind“, sagt Anna Fels. „Und die Eltern tun das, von dem sie denken, es ist gut und richtig.“
Der 50-Jährigen war schon zur Schulzeit klar, dass die Heilpädagogik zu ihr passt. „Ich war schon immer der Kummerkasten“, sagt sie augenzwinkernd. Sie studierte an der Uni Köln, arbeitete schon während des Studiums im Jugendamt. Nina Braun ist Erzieherin, hat im Montessori-Hort gelernt, fand dann für sich persönlich den Offenen Ganztag als „zu großes Becken“. An der Bismarckstraße ist der Rahmen kleiner, der Austausch intensiv. „Dieser Job ist das, was ich tun möchte“, sagt Nina Braun. Und was nicht fehlen darf, sagen beide: „Humor.“
Dann geht die Tür zur Küche auf. Ein blonder Schopf ist zu sehen: Die Schule ist zu Ende. Der erste Junge ist da. Er schaut und lächelt.
Hintergrund
In der Heilpädagogischen Tagesgruppe an der Bismarckstraße bietet die Evangelische Jugendhilfe Bergisch Land Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren nach der Schule einen zuverlässigen und strukturierten Tagesablauf sowie eine heilpädagogische Begleitung. Dabei werden die Eltern in engem Austausch mit eingebunden. Leiterin ist Anna Fels.
Remscheider General Anzeiger, 11.08.2023: Text und Foto von Nadja Lehmann