6. Juli 2023

Jugendamt findet keine Plätze für gefährdete Kinder

Die stationären Jugendhilfe-Einrichtungen sind voll. Um die schweren Fälle in der Kinderschutzambulanz muss sich Remscheid kümmern.

Die Evangelische Jugendhilfe Bergisch Land, hier Geschäftsführerin Silke Gaube, eröffnet eine Inobhutnahmegruppe für Jugendliche.

Die Evangelische Jugendhilfe Bergisch Land, hier Geschäftsführerin Silke Gaube, eröffnet eine Inobhutnahmegruppe für Jugendliche. © Roland Keusch

Remscheid. Adrian konnte nicht mehr schweigen. Er vertraute sich seinem Lehrer an: Der Elfjährige und seine Geschwister wurden von beiden Elternteilen geschlagen. Die Schule schaltete das Jugendamt ein. Die 15-jährige Nila meldete sich sogar selbst dort, weil sie nicht mehr weiter wusste. Ihre Mutter war aufgrund von Drogen- und Alkoholproblemen komplett überlastet. Alexander (16, alle Namen geändert) wurde nicht nur emotional vernachlässigt, sondern auch von den wechselnden Partnern der Mutter geschlagen. Alle drei fanden ein neues, sicheres Zuhause bei der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL). Sie hatten Glück.

Denn Kinder und Jugendliche wie Adrian, Nila und Alexander unterzubringen, ist gerade das Problemthema Nummer eins im Remscheider Jugendamt. Denn es gibt keine Plätze. „Die Inobhutnahmestellen sind rappelvoll“, sagt Thomas Küchler vom Jugendamt. Nicht nur in Remscheid, sondern bundesweit. „Wir wählen uns die Finger wund, um alle Stellen abzutelefonieren.“ Letztens sogar bis nach Norddeutschland. Wo sollen die Kinder, die in Not sind, also untergebracht werden? Darüber zerbrechen sich die Jugendämter derzeit den Kopf.

Zumindest eine kleine Abhilfe schafft nun die EJBL. Denn im Herbst eröffnet sie eine neue Inobhutnahme-Gruppe mit voraussichtlich sechs Plätzen für Jugendliche – auch auf Bitten der Stadt hin. „Dafür sind wir der EJBL dankbar“, sagt Küchler. Zumal diese auf dem Waldhof-Gelände über ein Aufnahme- und Clearingzentrum verfügt, also die perfekte Adresse für genau diese Kinder sei. Weitere Einrichtungen, in denen das Jugendamt Kinder unterbringt, um die sich die Eltern nicht mehr adäquat kümmern können, sind das ISS Netzwerk am Rosenhügel und die Gotteshütte in Hückeswagen. Wenn denn was frei ist. Manchmal auch in Bereitschaftspflegefamilien, aber auch dort kann nur eine gewisse Zahl an Kindern ein neues Zuhause finden. Der Bedarf ist weitaus größer.

Die Inobhutnahme durchs Jugendamt ist immer die letzte Wahl

Aber warum gibt es eigentlich keine Plätze? Das habe gleich mehrere Gründe, sagt Thomas Küchler. Erstens: Fachkräftemangel. Zudem würden die Fälle immer schwerwiegender – was auch die Ärztliche Kinderschutzambulanz bestätigt. Immer mehr Kinder und Jugendliche müssten aufgrund ihrer Verletzungen stationär aufgenommen werden. Corona mit seinen Lockdowns habe das Ganze noch befeuert. Und drittens habe es das Jugendamt gerade wieder mit einer großen Welle von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu tun, die untergebracht werden müssten. Ein Platz kostet rund 500 Euro am Tag, finanziert durch Steuergeld.

Die Inobhutnahme ist für das Jugendamt nur die letzte Wahl – und wird im zweiten Schritt auch von einem Familiengericht überprüft. Vorher würden erst alle anderen Möglichkeiten wie flexible Erziehungshilfen oder ein Umzug zu anderen Familienmitgliedern geprüft, betont Küchler. „Schließlich ist das für die Kinder ein sehr einschneidendes Ereignis.“ 2022 führte die Stadt 19 Inobhutnahmen durch (zehn Kinder waren unter 14, neun waren 14 bis 17 Jahre alt). Die Zahl ist laut Küchler in den vergangenen drei Jahren in etwa gleich geblieben.

Striemen, blaue Augen, Misshandlungsspuren – tägliches Geschäft in der Ärztlichen Kinderschutzambulanz an der Burger Straße. Hier stellen Jugendämter aus ganz NRW Kinder und Jugendliche vor. Müssen sie danach aber untergebracht werden, muss sich das Remscheider Jugendamt kümmern.

Zu diesem Thema gibt es auch den Beitrag der WDR LOKALZEIT vom 20.06.2023. In ihm schildern zwei Jugendliche ihr Leben vor der Inobhutnahme durch die EJBL, wie sie den nun geschützten Raum ihrer Wohngruppe erleben und wieder Chancen für ihre Zukunft sehen. Anschließend folgt ein aufschlussreiches Interview mit der EJBL Fachbereichsleiterin für Besondere Wohn- und Hilfeformen Melanie Grobe. Hier ansehen: Die EJBL in der WDR-Lokalzeit 20.06.2023

Was kann ich tun, wenn ich den Verdacht habe, dass ein Kind in Gefahr ist? Das Jugendamt anrufen. Zwischen 8 und 16 Uhr ist es unter Tel. 02191-163944 erreichbar, danach über die Polizei Tel. 0202-284-0 oder die Feuerwehr, Tel. 02191-162400.